Ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen sollte, obwohl ich genau wusste, was ich ihr sagen wollte. Ich wollte ihr sagen, sie solle bitte ihr Passwort eingeben. Ich kannte ihr Passwort nämlich nicht. Ich kannte mich nur mit Computern aus, was nicht implizierte, dass ich ihr Passwort kannte. Aber sie schien zu glauben, dass ich ihr Passwort kannte. Sie gab es nicht unaufgefordert ein. Sie zeigte nur auf ihren Computer und erklärte, dass er nicht funktioniere. Ich sollte den Computer wieder in Gang bringen. Doch ich sah kein Problem. Der Computer war eingeschaltet, er surrte, der Bildschirm leuchtete und forderte dazu auf, ein Passwort einzugeben. Wo war also das Problem? Das Problem lag sicher hinter dem Passwort. Wahrscheinlich konnte sie ihr Schreibprogramm nicht starten, nachdem sie ihr Passwort eingegeben hatte. Aber wie sollte ich prüfen, was mit ihrem Schreibprogramm nicht stimmte, wenn sie ihr Passwort nicht eingab? Zuerst musste sie also ihr Passwort eingeben, und ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen sollte. Sollte ich es ihr sagen, indem ich sie duzte oder siezte? Ich war noch nicht allzu lange in der Firma tätig, kannte die Leute und die Hierarchien nicht genau, wusste nur, dass es drei Ebenen gab. Es gab die, die ganz oben waren, es gab die aus der Mitte und die von ganz unten. Ich gehörte zu denen von ganz unten, und die von ganz unten sagten “Du” zueinander, die aus der Mitte sagten bis auf ein paar Ausnahmen ebenfalls “Du” zueinander. Auch sagten die von ganz unten zu denen aus der Mitte “Du”, und die aus der Mitte sagten zu denen von ganz unten “Du”, nur ein paar Ausnahmen aus der Mitte erwarteten, dass man “Sie” zu ihnen sagte. Es waren diejenigen aus der Mitte, die sich mehr mit denen von ganz oben verbunden fühlten, vielleicht, weil sie hofften, selbst bald zu denen von ganz oben zu gehören. Die von ganz oben sagten zu denen aus der Mitte “Sie” und zu denen von ganz unten sagten die von ganz oben in der Regel gar nichts. Wenn jemand von ganz oben jemandem von ganz unten etwas sagen wollte, sagte er es jemandem aus der Mitte, der es dem ganz unten sagte, und wenn jemand von ganz unten jemandem von ganz oben etwas sagen wollte, sagte er es ebenfalls jemandem aus der Mitte, der es dann aber meistens dem ganz oben nicht sagte, oder, falls es etwas besonders Kluges war, sagte er es dem von ganz oben schon, verschwieg dabei jedoch, dass es jemand von ganz unten gesagt hatte. Ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen sollte. “Geben Sie mal bitte Ihr Passwort ein” oder lieber “Gib mal bitte dein Passwort ein”? Welcher Ebene gehörte sie an? War sie eine Sekretärin, so war sie eine von ganz unten. War sie Buchhalterin, so gehörte sie zu denen aus der Mitte, konnte also zu denen aus der Mitte gehören, die das Sie erwarteten. Vielleicht war sie eigentlichen auch eine von ganz oben, weil sie heimlich mit einem von ganz oben schlief. Oder war sie die Gattin von einem von ganz oben und war deshalb wie eine von ganz oben zu behandeln, obwohl sie Arbeiten machte, die auch die aus der Mitte oder von ganz unten machten? Ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen sollte und überlegte, wie die direkte Anrede zu umgehen sei: “Man müsste hier mal ein Passwort eingeben”, könnte ich sagen, doch wie klingt das? Klingt das nicht genauso wie: “Du kleines Blödchen. Man müsste ja auch erst mal ein Passwort eingeben”? Nein, so darf ich ihr das nicht sagen. Also anders … vielleicht, indem ich auf den Bildschirm blicke und sage: “Oh. Hier muss ein Passwort eingegeben werden!” Aber was wird sie dann von mir denken, von mir, dem Experten, der den Computer heil machen soll, der sagt: “Oh. Hier muss ein Passwort eingegeben werden.” Als wenn sie das nicht selbst sehen würde. Soll ich sie doch einfach direkt anreden mit “Du” oder “Sie”? Nur wofür soll ich mich entscheiden? Soll ich es vom Alter abhängig machen? Ist sie älter als ich, sage ich “Sie”, ist sie jünger, sage ich “Du.” Aber wie alt ist sie denn? Wenn ich nach ihrem Aussehen gehe, würde ich sagen, sie ist älter als ich. Doch da irrt man sich leicht, da ist man eng mit Fettnäpfchen umstellt. Ich kann auch nicht fragen: “Wie alt sind Sie überhaupt?” oder “Wie alt bist du eigentlich”, zum einen, weil ich nicht weiß, ob ich sie mit “Sie” oder “Du” anreden soll, zum anderen weil sie es mit Sicherheit falsch interpretieren würde. Frage ich: “Wie alt sind Sie eigentlich?”, fasst sie es auf wie “Du kleines Blödchen”, frage ich “Wie alt bist du eigentlich?”, denkt sie alles mögliche von mir. So wird das nichts. Ich muss es anders anstellen, vielleicht fragen, wie sie gern angeredet werden möchte: “Soll ich dich siezen oder wollen Sie geduzt werden?” “Darf ich Sie zu Ihnen sagen oder bist du auch eine von ganz unten?” Schließlich entschied ich mich, zu sagen: “Ich müsste hier ein Passwort eingeben.” Sie sagte: “Das macht nichts” und rührte sich nicht. “Welches Passwort wird denn hier immer eingegeben?”, sagte ich und merkte sogleich, dass es ein Fehler war, dies zu fragen. “Ich weiß es nicht”, sagte sie, und genau das musste sie sagen, denn ihr Passwort hatte sie für sich zu behalten und niemandem zu verraten. Auch nicht mir. Es war ein Fehler, danach zu fragen, und sie tat jetzt so als wüsste sie es nicht, damit sie gar nicht erst in die Verlegenheit kam, es zu sagen. Aber ich wollte es auch nicht erfahren, ich wollte nur, dass sie es eintippte. “Wer gibt denn das Passwort hier sonst immer ein?”, fragte ich. “Ich”, sagte sie. “Also bitte”, sagte ich und wies auf die Tastatur. Jetzt hatte ich sie endlich im Griff. Doch sie sagte: “Ich habs vergessen.” “Ach, das ist das Problem?”, sagte ich. “Ja”, sagte sie. “Ich habs vergessen, und ich dachte, da frage ich mal jemanden, der sich damit auskennt.” “Woher soll ich denn dein Passwort kennen”, hätte ich sagen wollen, doch ich sagte, die direkte Anrede vermeidend: “Ich kenne doch nicht von jedem das Passwort”, und dachte dabei, dass ich noch nicht einmal wusste, zu wem ich “Sie” und zu wem “Du” sagen sollte. Sie sagte: “Na, ich dachte, man könnte mir irgendwie helfen.” Jetzt dämmerte es mir. Wahrscheinlich hatte sie das gleiche Problem wie ich und wusste nicht, wie sie mich anreden sollte. Warum hatte sie nicht gesagt: “Na, ich dachte, Sie könnten mir helfen” oder “du könntest mir helfen”, sie hatte gesagt: “man könnte mir helfen.” “Das kann nur ein Psychiater”, sagte ich. “Nur ein Psychiater kann da helfen, in einer langen Sitzung neben dem Patienten auf der Couch. Der Psychiater wird dem Patienten sagen: Versuchen Sie sich zu erinnern an ihre Geburt, erzählen Sie von Ihrer Kindheit, hat Ihre Mutter Sie geschlagen? Gehen Sie ganz, ganz, ganz tief in Ihr Unterbewusstsein, versuchen Sie noch einmal den Moment zu erleben, als man Ihnen das Passwort sagte, als Sie es sich ausdachten, suchen Sie in Ihrem tiefsten Inneren nach dem Passwort. Suchen Sie, suchen Sie, suchen, suchen und suchen Sie! Dann klappt das auch.” “Aber kann man das Passwort nicht einfach zurücksetzen?”, sagte sie. “Klar kann man das Passwort zurücksetzen”, sagte ich. “Aber wer soll das machen?” “Na, ähm, ich weiß auch nicht. Vielleicht der Administrator?” Ich setzte ihr Passwort zurück und sie war glücklich.
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