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Herbstlaub

Es dürf­te 1988 gewe­sen sein, da ich als Ange­stell­ter beim VEB Kom­bi­nat Tief­bau Ber­lin eines Mor­gens fas­zi­niert auf den Bild­schirm der Sekre­tä­rin starrte.
“Da! Jetzt ist schon wie­der ein Buch­sta­be run­ter­ge­fal­len!”, rief ich begeis­tert und zeig­te auf ein A, das dem Text, den die Sekre­tä­rin gera­de bear­bei­tet hat­te, ent­sprun­gen und zum unte­ren Bild­schirm­rand gerutscht war. “Und jetzt noch einer!”, rief ich und klatsch­te vor Freu­de in die Hän­de. Es war mei­ne aller ers­te Begeg­nung mit einem Computervirus.
Die Sekre­tä­rin teil­te mein Glücks­ge­fühl nicht, denn sie hat­te eine Stun­de lang an dem Schrei­ben geses­sen und muss­te nun zuse­hen, wie ihr Werk Buch­sta­be für Buch­sta­be nie­der­pras­sel­te und am Boden als unge­ord­ne­ter Hau­fen lie­gen blieb.
Ande­re Kol­le­gen kamen hin­zu und schau­ten der Sekre­tä­rin über die Schulter.
“Ein Virus, ein Virus!”, erklär­te ich auf­ge­regt. “Wir müs­sen ihn Herbst­laub nen­nen. Seht nur die Buch­sta­ben, die sich vom Text wie Blät­ter von den Bäu­men lösen und nach unten glei­ten. Wie süß und mit wel­cher Lie­be zum Detail das pro­gram­miert wor­den ist.”
Die Kol­le­gen bli­cken mich ver­ständ­nis­los an. Einer sag­te: “Ein Virus? Das soll ein Virus sein?” Ein ande­rer frag­te: “Was ist denn ein Virus?” Ein drit­ter mein­te, der Moni­tor sei defekt, anders las­se sich nicht erklä­ren, dass die Buch­sta­ben herabfallen.
“Jemand, der einem simp­len Katho­den­strahl­mo­ni­tor die Intel­li­genz zuschreibt, ein­zel­ne Buch­sta­ben des ange­zeig­ten Tex­tes zu erken­nen und nie­der­fal­len zu las­sen, ist selbst nicht intel­li­gen­ter als ein Moni­tor”, sag­te ich, um allen klar­zu­ma­chen, für wie intel­li­gent ich die Schluss­fol­ge­rung des drit­ten Kol­le­gen hielt. Der drit­te Kol­le­ge blick­te mich ver­är­gert an, und da der Kol­le­ge zudem noch Chef war, füg­te ich hin­zu: “Also, ich mei­ne natür­lich: Ist selbst nicht intel­li­gen­ter, als ein Moni­tor, der die Intel­li­genz hat, ein­zel­ne Buch­sta­ben des ange­zeig­ten Tex­tes zu erken­nen und nie­der­fal­len zu las­sen. Und die­ser Moni­tor hier besitzt die­se Fähig­keit defi­ni­tiv nicht. Damit sind Sie auf jeden Fall intel­li­gen­ter als die­ser Moni­tor hier, denn Sie besit­zen doch die Fähig­keit, ein­zel­ne Buch­sta­ben zu erken­nen. Sie kön­nen doch lesen, oder? Und wenn ich sage, dass Sie nicht intel­li­gen­ter sind, als ein Moni­tor, der lesen kann, bedeu­tet das ja noch nicht, dass Sie düm­mer sind, als ein Moni­tor, der lesen kann. Das heißt eigent­lich nur, dass Sie nicht klü­ger sind, als ein Moni­tor, der lesen kann. Nach der von mir gewähl­ten For­mu­lie­rung kön­nen sie aber durch­aus genau­so intel­li­gent sein, wie ein Moni­tor, der lesen kann. Dazu kommt noch, dass es der­zeit über­haupt kei­ne Moni­to­re gibt, die ein­zel­ne Buch­sta­ben des ange­zeig­ten Bil­des erken­nen kön­nen. Nir­gend­wo auf der Welt gibt es so etwas. Das sagt uns aber auch, dass Sie intel­li­gen­ter, als jeder belie­bi­ge real­exis­tie­ren­de Moni­tor sind. Mei­ne Behaup­tung galt also einem Moni­tor, der ein­zel­ne Buch­sta­ben erken­nen kann. Und nur ein­mal ange­nom­men, es gebe solch einen Moni­tor, der Buch­sta­ben erken­nen kann, dann könn­te ich mir durch­aus vor­stel­len, dass solch ein Moni­tor von sich selbst auf ande­re Moni­to­re schließ, und meint der ande­re Moni­tor kön­ne auch Buch­sta­ben erken­nen, und da er sie hin­ab­stür­zen lässt, müs­se er defekt sein. Ein dum­mer Moni­tor hin­ge­gen, mit dem Sie sich, lie­ber Herr Kol­le­ge, zuerst ver­gli­chen fühl­ten, könn­te eine solch däm­li­che Äuße­rung wie von Ihnen ja nie­mals von sich geben. Also haben Sie damit in gewis­ser bewei­sen, wie unge­heu­er intel­li­gent Sie sind.”
Der drit­te Kol­le­ge blick­te etwas ver­wirrt, dann sag­te: “Genau. So ist es. Ich bin ja nicht umsonst Abtei­lungs­lei­ter”. Dann ver­zog er sich stillschweigend.
“Was ist denn nun ein Virus?”, frag­te der zwei­te Kollege.
“Irgend­was aus dem Wes­ten”, ant­wor­te­te der ers­te Kol­le­ge. “Wenn das wirk­lich ein Virus ist, dann ist das Sabo­ta­ge. Wie soll der Virus denn hier­her gekom­men sein?”
“Auf Dis­ket­te viel­leicht?”, frag­te ich.
Bei dem letz­ten Stich­wort errö­te­te die Sekre­tä­rin, hol­te schnell die 5−1÷4 Zoll-Dis­ket­te aus dem Lauf­werk und ver­ab­schie­de­te sich zur Früh­stücks­pau­se. Ich wuss­te, dass auf die­ser Dis­ket­te das Com­pu­ter­spiel gespei­chert war, das sie manch­mal in der Mit­tags­pau­se spiel­te. Dabei muss­te man einen aus Minus­zei­chen, Xen und ande­ren Buch­sta­ben zusam­men­ge­setz­ten Hub­schrau­ber in hori­zon­ta­ler Ebe­ne hin und her­steu­ern und aus Ps und Qs gebil­de­te Men­schen ein­sam­meln oder abschie­ßen ich weiß es nicht mehr genau. Das Ein­zi­ge, was mich an dem Spiel so begeis­tert hat, war, wie die end­li­che Com­pu­ter­welt begrün­det wur­de. Gab es doch ande­re, ähn­li­che Spie­le, wo man mit klei­nen Männ­chen durch hori­zon­tal über den Bild­schirm glei­ten­de Land­schaf­ten hüp­fen konn­te, durch Land­schaf­ten, die irgend­wo ihr Ende hat­ten, an dem das Männ­chen ein­fach ste­hen blieb und eigent­lich völ­lig unbe­grün­det nicht mehr wei­ter­lau­fen woll­te. Auch die Hub­schrau­ber­land­schaft hat­te ihr Ende, und flog man mit dem Hub­schrau­ber ganz, ganz lan­ge nach links oder rechts, blieb er irgend­wann ein­fach in der Luft ste­hen, und es erschien der Text: “Hier ist Staats­gren­ze. Hier gehts nicht wei­ter.” Völ­lig logisch, ins­be­son­de­re für einen Hubschrauber.
Da die Sekre­tä­rin ver­schwun­den war, setz­te ich mich an ihren Com­pu­ter und fing an, mich mit dem klei­nen Herbst­laub­freund zu beschäf­ti­gen. “Na, das will ich sehen, dass du das hin­kriegst”, mein­ten die ande­ren Kol­le­gen spöt­tisch. “Wenn das ein Virus ist, na ich glaub es ja nicht.”
Zwei Stun­den spä­ter hat­te ich den Böse­wicht aus­fin­dig gemacht und ein Pro­gramm geschrie­ben, das ich nahe­lie­gen­der­wei­se MEDIZIN.COM nann­te. Die Medi­zin konn­te den Virus von jedem belie­bi­gen Daten­trä­ger ver­trei­ben, und schon hat­te ich soviel Mit­leid mit dem klei­nen Herbst­laub­f­re­nud, dass ich ihn eben­falls auf einer Dis­ket­te spei­cher­te, in einer Datei, die ich KRANK.COM. nannte.
Spä­ter woll­ten alle Kol­le­gen von mir die Medi­zin-Dis­ket­te kopiert haben. Ich bot ihnen auch die Krank-Dis­ket­te an, für den Fall, dass ihr Rech­ner gesund war. Doch die woll­te nie­mand haben.

PS: Über den Herbst­laub­vi­rus gibt es einen eige­nen Wiki­pe­dia-Arti­kel, wo behaup­tet wird, dass er im Ost­block wenig ver­brei­tet gewe­sen sei. Dage­gen spricht, dass Herbst­laub der ein­zi­ge Virus war, der mir im Osten begeg­net ist.

PS2: Und hier noch ein Video, das Herbst­laub in Akti­on zeigt:

Tags: Virus, DDR, Herbstlaub, Osten

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