Dieser Bildband über die Hauptstadt der DDR, nämlich Berlin, ist sicherlich einer der kleinsten seiner Art und auch das kleinste Buch, das ich mal in einem Büchertauschschrank gefunden habe,
Der Bildband wurde im Jahre 1980 vom Verlag “Zeit im Bild” herausgegeben und enthält eine Menge Fotos von Berlin, als es noch Hauptstadt der DDR war. In den einleitenden Worten heißt es unter anderem:
Buchstäblich aus Ruinen auferstanden wird das Berlin von heute immer mehr zum Symbol für den Siegeszug des Sozialismus auf deutschem Boden.
Im Jahre 1989 ist der Siegeszug des Sozialismus auf deutschem Boden dann beendet worden, nicht durch Ochs und nicht durch Esel, sondern durch die Bürger, die mit mutigen Montagsspaziergängen die Wende eingefordert haben.
Davon ist in dem Büchlein freilich noch nichts zu erkennen. Hier wir die Hauptstadt der DDR in ihrer sozialistischen Schönheit gezeigt.
So gibt es viele Fotos rund um den Alexanderplatz, über den folgendes zu lesen ist:
Berlin – Alexanderplatz: Ein beliebter Treffpunkt ist die Weltzeituhr. Mehrere tausend Berliner haben hier auch ihre Arbeitsstätten im Centrum-Warenhaus, im “Hotel Stadt Berlin”, im Berliner Verlag, bei der U- und S‑Bahn, im Haus des Lehrers. Alle Bauten rings um den Platz werden vom 365 Meter hohen Fernsehturm überragt. Die Berliner lieben den Alexanderplatz, nennen ihn einfach Alex.
Daß der Fernsehturm 365 Meter hoch ist, stimmt nicht mehr. Er ist jetzt 368 Meter hoch, weil ihm 1997 im Zuge einer Modernisierung der Sendeanlage eine neue Spitze auf die Antenne gesetzt wurde.
Dadurch kann man sich die Höhe des Fernsehturms nicht mehr so einfach merken, denn, war der Fernsehturm in der DDR so viele Meter hoch wie das Jahr Tage hat, so ist er nun drei Meter höher als das Jahr Tage hat.
Wie (wahrscheinlich) fast alle Berliner, war ich nur ein einziges Mal auf dem Fernsehturm. Ich denke, daß ich 5 Jahre alt war, und ich bemerkte damals, daß die Menschen unten auf dem Alex wie Ameisen aussahen.
Hier der Alexanderplatz wie er einst war:
Rechts, das blaue Hochhaus, war das Hotel Stadt Berlin (jetzt Park in), und geradeaus sieht man das Centrum-Warenhaus (jetzt Kaufhof), wo ich 1988 mit meinem damaligen Mitlehrling Klaus eine Segelscheibe (Westwort: Frisbee) geklaut hatte, mit der wir dann auf dem Alex über den Köpfen der Menschen und zwischen den Menschen hindurch spielten. Wir fanden das lustig,
Und irgendwann im Jahre 1990 war ich mal mit Volker auf dem Alex, wir hatten uns irgendwo hingesetzt, vielleicht dort, rechts unten im Bild, wo die beiden sitzen, die so aussehen, als wenn sie sich grade eine Zigarette drehen, als uns plötzlich lauter Zigeuner umringten, die in fremder Sprache und gebrochenem Deutsch etwas sagten, fragten und redeten und gestikulierten.
Dabei bemerkte ich, daß eine dicke Frau von der Seite auf dem Boden heran gekrochen kam und nach Volkers Rucksack langen wollte, den er zu seinen Füßen abgestellt hatte.
Ich sagte Volker, er solle mal seinen Rucksack festhalten, und als er das tat, verschwanden die Zigeuner sofort und so plötzliche wie sie gekommen waren.
Es war die Wende, die uns um Erlebnisse dieser Art bereichert hat.
Im Jahre 2021 habe ich mit Volker noch mal so etwas ähnliches erlebt. Es war aber nicht auf dem Alexanderplatz, sondern in einem Straßencafe in Pankow, und es ging nicht um Volkers Rucksack, sondern um sein Handy, es waren nicht lauter Zigeuner, sondern irgendein komischer Typ, und ich sagte Volker nicht, daß er mal sein Handy festhalten solle.
Das Handy war weg.
Ein weiteres Foto vom Alex in diesem Bändchen zeigt offensichtlich, wie der Alexanderplatz gereinigt wird. Im Vordergrund ein Mann mit einem Straßenstaubsauger, weiter hinten Frauen, die mit Besen den Platz fegen. Dazu die Weltzeituhr, bei der niemand auf die Idee gekommen wäre, sie mit Farbe zu beschmieren, um Veränderungen zu erwirken. Es haben sich aber viele Menschen an der Weltzeituhr verabredet.
Der Mann mit dem Straßenstaubsauger erinnert mich an einen Mann, der irgendwann im Sommer 1993 mit eben solch einem Staubsauger den Fernbahnsteig vom S‑Bahnhof Schöneweide reinigte. Ich beobachtete ihn aus meiner S‑Bahn heraus, die gerade gehalten hatte, sah ihn die Maschine hochschieben, hinschieben, herschieben, und ich sah, wie er exakt an der Bahnsteigkante entlang saugte, als eine einzelne Diesellok ohne Hänger vorbeirauschte – eine Durchfahrt.
Es gab einen kräftigen Knall, Funken flogen, der Mann saß auf dem Hosenboden und guckte verwirrt. Der Staubsauger war weg.
Was danach geschah, weiß ich nicht, denn es hieß “Zurückbleiben bitte” und meine S‑Bahn fuhr los.
In dem Bildbändchen ist natürlich auch der Palast der Republik. Hier der Blick auf den Palast vom Fernsehturm aus, wo wir hinten, noch vor dem Palast der Republik, den Neptunbrunnen erkennen:
1987, so war mir in Erinnerung, hat mein damaliger Mitlehrling Klaus ein Zitat von Karl Marx an den Neptunbrunnen geschrieben und ist dabei von der Stasi erwischt worden. In Wirklichkeit, so hat er mir noch mal auf meine Nachfrage gesagt, hat er aber gar nichts an den Neptunbrunnen geschrieben, sondern an das Marx-Engels-Denkmal ein paar 100 Meter weiter, das es erst seit 1986 gibt und deshalb in dem Büchlein keine Erwähnung findet. Die Stasi hat Klaus laufen lassen, hat nur “Du, du, du!” gesagt, weshalb man aber nicht denken darf, daß alles nicht so schlimm im Osten war.
Im Sommer 2013 ist im Neptunbrunnen ein nackter Mann von der Polizei erschossen worden.
Nicht weit entfernt ist das Palasthotel, in dem man nur für Westgeld wohnen durfte und in dem die meisten Zimmer von der Stasi verwanzt waren.
Das Hotel ist 2001 abgerissen worden, und es wurde ein neues Hotel mit einem riesigen Aquarium, einem mit Wasser gefüllten Zylinder aus Acryl, in dem rund 1500 Fische lebten, dem sogeannten Aquadom, gebaut. Der Zylinder ist 2022 geplatzt, das Wasser ausgelaufen, und fast alle Fische sind gestorben.
Durch die Passage, rechts im Bild, bin ich 1984 einmal spät abends mit meinem Kumpel Dirk, auf dem Weg zu einer Disco, gelaufen, als ein Mann mit einer Ziehharmonika auftauchte und uns ein Lied spielte. Wir haben ihm fünf Mark Ost dafür gegeben.
Die meisten Fotos in dem Büchlein haben keine Beschreibung. Man muß einfach wissen, was abgebildet ist. Das folgende zum Beispiel zeigt die Staatsoper, vor der man in den 80er Jahren noch parken durfte:
In der vordersten Reihe zähle ich 8 Trabis, einen so genannten “alten Wolga”, eine Schwalbe KR51 und eine MZ Trophy (ES 125er). Dann könnte dort noch ein Moskwitsch stehen und ein oller alter Saporoshez (Saporosh/Zappelfrosch). Ich bin nicht ganz sicher.
Wer sieht mehr? Wer sieht was anderes?
Das Büchlein widmet auch einen ganzen Abschnitt dem arbeitenden Volk in der Hauptstadt der DDR, dem folgende Worte vorangestellt sind:
Seit der Gründung der DDR hat sich Berlin, Hauptstadt des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden, eine gute Entwicklung vollzogen.
Gesicherte Arbeitsplätze, hohe Bildung, soziale Sicherheit, fürsorgliche gesundheitliche Betreuung, ein hohes Lebensniveau – all das spricht dafür, daß sich das Leben der Menschen im Sozialismus von Grund auf zum Guten verändert hat.
Es kommen dann viele Fotos von Menschen, die zeigen, wie sie fleißig arbeiten, Menschen, die trotz der genannten Vorzüge, dann 1989 dem Arbeiter-und-Bauern-Staat ein Ende gesetzt haben.
Es seien hier zwei Bilder herausgesucht, und zwar eins mit einem Mann, der mit einem Schraubenzieher etwas schraubt:
Und eines mit einer Frau, die einen Elektroschrauber in den Händen hält und freundlich in die Kamera blickt:
Das Bild von der Frau mit dem Elektroschrauber finde ich am schönsten, vielleicht, weil sie den Elektroschrauber richtig hält, vielleicht, weil es nicht so gestellt erscheint wie das berühmte Shutterstock-Foto von der Frau, die den Lötkolben falsch hält.
Der fotografische Streifzug durch die Hauptstadt der DDR führt den Betrachter noch zu vielen anderen Orten, so sehen wir Bilder vom Treptower Park, von Mehrzweckgaststätten, von Schülern mit blauem Pionierhalstuch, vom Naturkundemuseum und natürlich auch, das sei jetzt noch exemplarisch ausgewählt, von der Schönhauser Allee:
Und ganz zum Abschluß noch das Bild eines sogenannten “neuen Wolgas” neben einem Trabi vor einem Souvenirgeschäft:
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